Wie funktioniert Therapeutisches Klettern?
Wenn Therapeuten in der Vergangenheit über Klettern nachdachten, fielen ihnen häufig Attribute wie »sehr komplex«, »aufwendig« oder »gefährlich« ein. Beim modernen Therapeutischen Klettern fallen eher Begriffe wie »motivierend«, »steuerbar« und »universell einsetzbar«. Wie das in der Praxis funktioniert, zeigt uns der Autor am Beispiel eines Impingement-Syndroms am Schultergelenk.
Jana Martinez greift sicher nach dem nächsten Griff. Ihre Schulter bleibt schmerzfrei. Sie findet eine neue Halteposition an der therapeutischen Kletterwand und korrigiert selbst die Stellung ihrer Wirbelsäule und Schulterblätter. Der Therapeut gibt ihr dazu noch taktile Reize an den Außenrotatoren des rechten Schultergelenks, denn seine Klientin hat ein Impingement-Syndrom – es verursacht einen starken Schmerz bei Abduktion und Anteversion über 90 Grad und gleichzeitiger Innenrotation.
An der Kletterwand versucht die Patientin unter präziser Anleitung und Hilfestellung die Muskulatur zu aktivieren und zu kräftigen, die den Humeruskopf kaudalisiert, also Platz schafft im subakromialen Raum.
Dafür ist die 39-jährige Grafikdesignerin ihrem Motto untreu geworden, »nie höher als auf einen Stuhl zu klettern«. Sie hat eigentlich Höhenangst, doch das ist an der verstellbaren Kletterwand kein Problem: Die beiden beschichteten Multiplex-Paneele sind jeweils zweieinhalb Meter hoch und der Therapeut steht direkt hinter ihr auf einer Fallschutzmatte.
pt_Fachvideo
Jens Brünjes demonstriert mittels
Modell einen möglichen Therapieverlauf am Fallbeispiel eines Impingement-Syndroms am Schultergelenk: von leichten Übungen über Traversieren und schräges Aufsteigen bis zu komplexen
Übungen mit dem Theraband.
pt_Interview
Wie und bei welchen
Krankheitsbildern kann Therapeutisches Klettern in der physiotherapeutischen Praxis angewendet werden? Jens Brünjes steht im Interview Rede und Antwort.
Moderne Kletterwandsysteme passen mittlerweile in normale Praxisräume, denn beim Therapeutischen Klettern (TK) geht es nicht um die Überwindung von vielen Höhenmetern wie beim Seilklettern. Vielmehr sind die präzisen Bewegungsaufgaben auf einer limitierten Fläche zielführend.
Ähnlich wie beim Bouldern (Sportklettern auf Absprunghöhe) sind die Neigung der Wand und die Auswahl sowie Position der Griffe entscheidend für den Schwierigkeitsgrad der Übungen (siehe Kasten). Die Wände kosten etwa so viel wie eine gute Behandlungsbank, sie erfordern also lediglich eine überschaubare Investition.
Als der Therapeut TK begleitend zur Manuellen Therapie vorschlug, war Jana Martinez verwundert: »Ich dachte, Klettern würde mich und meine Schulter überfordern, aber jetzt bin selbst ich erstaunt, wie hilfreich es bei meiner Problematik ist.« Ihr Therapeut arbeitet nach dem Potsdamer Modell (1), einem Therapieprogramm, das an der Universität Potsdam speziell für verstellbare Kletterwände konzipiert wurde.
Es ermöglicht dem Therapeuten, auch ohne profunde alpine Klettererfahrung ein Therapie-Setting zu schaffen, das präzise steuer- und dokumentierbar ist. Über die Belastungsparameter aus der Medizinischen Trainingstherapie (MTT) (2) und die Kletterwand selbst kann der Therapeut je nach Indikation die optimale Situation für den therapeutischen Prozess herstellen.
Jana Martinez trainiert die den Humeruskopf kaudalisierende Muskulatur in statischen und dynamischen Sequenzen. So gibt der Therapeut ihr die Vorgabe, den großen ergonomischen Klettergriff mit der betroffenen Seite dreimal 30 Sekunden in Supinationsstellung, also im sogenannten »Untergriff« zu halten (Abb. 1).
Danach wird Traversieren geübt. Die Patientin bewegt sich dabei auf der horizontalen Ebene an der Wand, um sich an die Kletterbewegungen zu gewöhnen (Abb. 2a–c).
In die folgenden Behandlungen integriert der Therapeut auch ein Theraband: Die Patientin hält sich mit der linken Hand an der leicht negativ geneigten Kletterwand fest (circa –5 Grad) und erarbeitet konzentrisch-exzentrisch die Kräftigung der Außenrotatoren mit dem Theraband (Abb. 4a–b). Der Vorteil: So wird der gesamte Körper gefordert, insbesondere die dorsale Rumpfmuskulatur. Dies verbessert die Nachhaltigkeit des Therapieerfolgs.
Anschließend zeigt ihr der Therapeut das schräge Aufsteigen , eine dynamische Klettersequenz (Abb. 3a, b). Auch hier darf sie die Therapiegriffe nur im Untergriff fassen.
Diese Bewegung soll Jana Martinez 18-mal wiederholen. Danach ist sie erst einmal erschöpft und braucht eine Pause mit Eigendehnungen für die Handgelenksflexoren.
… | ||
… |
KOMPASS ZUR STEUERUNG DER KLETTERTHERAPIE
Wandneigung
Abstand der Tritte / Griffe
Belastungsparameter aus der
MTT Vier- und Drei-Punkte-Regel
|
… |
… |
HINWEIS
Weitere Infos
www.theraboulder.de
www.physioclimb.de
Jana Martinez ist nicht die einzige Patientin, die ihr Therapeut und seine Kollegen »an der Wand« behandeln: Die Klettertherapie kann in orthopädische, neurologische und pädiatrische Behandlungen integriert werden. Manche Sitzungen können auch komplett an der Kletterwand stattfinden. Die Indikationen reichen von Skoliosen, Sportverletzungen und Gelenkinstabilitäten über Multiple Sklerose und Morbus Parkinson bis hin zu AD(H)S und Therapiemüdigkeit. Das Potsdamer Modell bietet hier Steuer und Kompass, den Rest kreiert der Therapeut mittels seiner Erfahrung und Kreativität – auch wenn er selbst kein Kletterer ist.
So technisch und steuerbar TK im Beispiel auch ist, es beinhaltet durch seine Herkunft – Bouldern und Klettern in freier Natur – sehr viel mehr: Die kognitiv-emotionale Ebene wird sehr stark angesprochen und gefördert, das ergibt sich aus einer hohen Motivationslage und einem positiven Erleben dieser Bewegungsart. Je nach Setting kann der Therapeut auch die soziale Kompetenz in den Vordergrund stellen.
Die drei Alleinstellungsmerkmale (Big Points) des Therapeutischen Kletterns
Ein letzter Blick auf die Patientin
Für Jana Martinez sind diese Vorteile deutlich spürbar – nach sechs Behandlungseinheiten kann sie ihren Arm sichtlich besser im Alltag einsetzen. Ihr Therapeut hat im Zwischenbefund notiert: Auf der Schmerzskala (VAS) reduziert sich der Schmerz von sieben auf drei, der Schmerz zeigt sich erst ab 110 Grad Anteversion und maximaler Innenrotation des Schultergelenks. Compliance und Eigenverantwortung haben sich ebenfalls verbessert. »Das ist ein sehr gutes Ergebnis und die anfangs eher therapieskeptische Patientin hat während der Behandlung sogar Motivation für ganz neue Bewegungsübungen entwickelt«, so das Fazit des Physiotherapeuten.
GLOSSAR
Traversieren
bedeutet, dass sich der kletternde Patient auf der
horizontalen Ebene an der Wand bewegt. Diese Bewegungsform wird unter anderem zur Schulung der Koordination der Körperschwerpunkt-Verlagerung und zur Gewöhnung an die Belastung an der
Kletterwand (zum Beispiel bei ängstlichen Patienten) gewählt.
Schräges Auf- und Absteigen
ist eine »klassische«
Kletterbewegung: Der Patient bewegt sich im diagonalen Muster zum nächsten Griff und Tritt. Er aktiviert und nutzt dabei alle relevanten diagonalen myofaszialen Ketten. Diese Bewegung
eignet sich sehr gut zum Zyklisieren (beispielsweise 20 Wiederholungen) mit konzentrisch-exzentrischer Muskelaktivität.
ANMERKUNG
Für die Abbildungen haben wir das Fallbeispiel
auf der FIBO 2016 mit einem Modell nachgestellt.
LESEN SIE AUCH
Kittel R, Brünjes J. 2015. Aufwärts als Therapierichtung.
Therapeutisches Klettern auf
Absprunghöhe nach dem Potsdamer Modell.
Z. f. Physiotherapeuten 67, 4:54–8
Heftnummer: 10-2016